Jetzt schauen wir uns die beiden Seiten der DIN-Normen an.

Am Rande sei erwähnt, dass es noch andere Regeln in der Bauwirtschaft gibt: VDE (Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V.), VDI (Verein Deutscher Ingenieure e.V.), DVGW (Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches e.V.), ZVSHK (Zentralverband Sanitär Heizung Klima e.V.) und weitere. Ich habe hierzu nicht weiter recherchiert, doch ich kann mir vorstellen, dass die folgenden Aussagen zu DIN auch auf diese Regeln und Organisationen zutreffen.

Klar haben DIN-Normen eine gute Seite. Bei meiner Recherche bin ich auf die Internetseite schrauben-lexikon.de gestoßen. Hier habe ich eine einleuchtende Erklärung über den „Sinn der Normung“ gefunden (aufgerufen am 24.09.2024):

Der Vorteil von Normung als Form der Standardisierung liegt in der einfacheren Arbeit mit genormten Bauteilen, da diese untereinander austauschbar sind. Dazu ist es notwendig, dass die grundlegenden Eigenschaften von Normteilen von einer Zentralstelle festgelegt und von Herstellern und Handel verwendet werden.

Beispiel Papierformat: Die DIN 476 regelt, dass ein DIN-A4-Blatt 210 x 297 mm groß sein muss. Es ist doch schön, dass mein DIN A4 Papier in alle Drucker passt, die dieses Format unterstützen.

Beispiel Schrauben: Ich habe zu Hause eine Gewindeschraube M12 und muss eine passende Mutter dazu kaufen. Es reicht, dass ich die Bezeichnung M12 kenne, denn ich weiß, dass sie auf die Schraube zu Hause passt.

Im Bauwesen regeln die Normen unter anderem, dass die Gebäude – oder Brücken – nicht einstürzen, dass sie nicht viel Energie verbrauchen, dass sie sicher sind, dass Brand- und Lärmschutz eingehalten werden und und und … Das ist doch gut und sinnvoll. Oder?

Die andere Seite der Medaille: Als Architekt muss ich sowie die anderen Fachplaner und die ausführenden Firmen etwas 3.900 Normen eingehalten. Tendenz steigend. Vor 5 Jahren waren es noch rund 180 Normen weniger (Quelle DIN, aufgerufen am 24.09.2024). Nicht nur, dass die Zahl der Normen ständig zunimmt, sie werden auch laufend geändert. Es ist meines Erachtens unmöglich, den Überblick zu behalten. Ich wage zu behaupten, dass es in Deutschland kein Gebäude gibt, das ALLE Bauvorschriften und Normen einhält.

Wer zurzeit baut, stöhnt über die enorm gestiegenen Bau- und Immobilienpreise. Die Überregulierung wird sehr häufig als Ursache genannt. Dass diese Aussage stimmt, kann ich als Baufachmann nur bestätigen.

1960 betrug die statische Berechnung für ein Einfamilienwohnhaus nur ca. 10 Seiten, mit der Schreibmaschine getippt oder sogar handschriftlich geschrieben. Das einzige Hilfsmittel war ein Taschenrechner oder vielleicht nicht einmal das. Damals waren die Stahlbetondecken 14 bis 16 cm stark.

Heute im Zeitalter von Computer und modernen Rechenverfahren umfasst die Statik für ein ähnliches Haus über 100 Seiten und mehr. Man könnte erwarten, dass durch die genaueren Rechenverfahren die Bauteildicken optimiert werden. Weit gefehlt! Selbst bei geringen Spannweiten müssen heute die Decken mindestens 20 cm dick sein. Ich frage mich, wieviel Häuser sind seit 1960 eingestürzt, dass die Decken dicker werden müssen?

In Deutschland ist das Deutsche Institut für Normung e.V. DIN für die Normung verantwortlich.

Das Deutsche Institut für Normung ist ein eingetragener Verein, wird privatwirtschaftlich getragen und bei seinen europäischen und internationalen Normungsaktivitäten von der Bundesrepublik Deutschland als einzige nationale Normungsorganisation unterstützt. Es bietet den sogenannten „interessierten Kreisen“ (Hersteller, Handel, Industrie, Wissenschaft, Verbraucher, Prüfinstitute und Behörden) ein Forum, im Konsensverfahren Normen zu erarbeiten. Der interessierte Kreis der Verbraucher wird durch den Verbraucherrat des DIN vertreten.

Quelle Wikipedia, aufgerufen am 28.09.2024, Hervorhebung durch den Autor

Das DIN ist also wie der Sportverein, Kaninchenzüchterverein oder Kleingartenverein als gemeinnütziger Verein organisiert und privatwirtschaftlich getragen. Und wie jeder Verein hat das DIN Mitglieder. Auf der Startseite der DIN-Webseite wird wie folgt um eine Mitgliedschaft geworben (aufgesucht am 24.09.2024): „Eine Mitgliedschaft lohnt sich: Als DIN-Mitglied nehmen Sie Einfluss auf normungspolitische Entscheidungen und profitieren von finanziellen Vorteilen.“ Ich frage mich, was das mit Gemeinnützigkeit zu tun hat.

Mitglied können Unternehmen und Institutionen, Verbände und Kammer, Start-ups und Hochschulen werden. 2024 beträgt der jährliche Beitrag z.B. für ein Unternehmen mit 10 Mitarbeitern 387,60 €, mit 100 Mitarbeitern 765,00 €. Für die Mitarbeit in einem Normenausschuss bekommt man weder Geld noch Aufwandsentschädigung noch Reisekosten. Man muss sogar dafür bezahlen, wenn man eine Norm „mitgestalten“ will: Für 1 bis 2 Sitze kostet dies jährlich 1.320,00 € (Quelle DIN, aufgerufen am 28.09.2024).

Ich frage mich, wer kann sich überhaupt leisten, an einer DIN-Norm mitzuwirken? Die Antwort gibt der DIN selbst. Derjenige, der davon finanziell profitiert (siehe oben). Wie der SWR recherchiert hat (siehe unten) sind die Mitarbeiter aus Unternehmen und Verbänden (Lobby) zumindest in einigen Normenausschüssen überrepräsentiert. In dieser Frage ist das DIN sehr intransparent.

Zur Rolle es DIN gibt es eine sehr gute Dokumentation des SWR: Viele Normen, Teure Wohnungen? – Vom Bürokratiewahnsinn im Wohnungsbau. Schaut euch das 45-minütige Video auf YouTube an. In der der Beschreibung wird die Problematik näher erläutert (aufgerufen am 04.10.2024):

SWR-Recherchen enthüllen: Vor allem Wirtschaftsvertreter legen Baunormen fest: Lange wurde es hinter vorgehaltener Hand vermutet, jetzt liefert die SWR Story „Viele Normen – teure Wohnungen“ den Beleg: Die Arbeit beim Deutschen Institut für Normung (kurz: DIN) ist nicht transparent. Nutzt die Wirtschaft dieses undurchsichtige Vorgehen zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil?

Das Fragezeichen am Ende ist wohl rhetorisch. Ja, die Wirtschaft nutzt die DIN zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil. Das gibt das DIN, wie oben zitiert, sogar zu. Einige wenige Architekten und Baufachleute haben die Problematik schon vor über 30 Jahren erkannt. Doch man hielt uns für Spinner.

Wer wettert denn am stärksten gegen die Bürokratie? Die Wirtschaft. Sie spricht von Wettbewerbsverzerrung und Nachteile für den deutschen Standort, verlagert Produktionen ins Ausland. Heuchler! Wo sie ihren eigenen Vorteil sieht, treibt sie mit ihrem Instrument DIN die „Bürokratie“ – die sie so stark kritisiert – auf die Spitze. Das bringt mich schon auf die Palme. Das ist ein Skandal, der die Verbraucher Milliarden kostet. Der DIN-Skandal schädigt nachhaltig den Ruf der deutschen Wirtschaft. Der Dieselskandal ist Peanuts dagegen.

Unser Bundesjustizminister Buschmann (FDP) propagiert den Gebäudetyp E und sagt in einem Interview: Gutes Wohnen hängt nicht davon ab, dass jede DIN-Norm eingehalten wird (aufgerufen am 04.10.2024). „Gebäudetyp E“ steht für „experimenteller und einfacher bauen“. In dem Interview erwähnt Buschmann: „Schon heute ist es grundsätzlich möglich, Abweichungen von Komfortstandards zu vereinbaren. Praktiziert wird das aber nur selten.“ Warum ist das so?

In der SWR-Dokumentation werden zwei Dinge deutlich:

  • Jede Abweichung muss mit dem Bauherrn vereinbart werden, und zwar rechtssicher! Das ist ein enormer zeitlicher und organisatorischer Aufwand, den sich kaum ein Architekt leisten kann.
  • Der Architekt in dem Film hat einige Beispiele aufgezeigt, dass man den Komfortstandard halten kann, wenn man unsinnige DIN-Normen nicht einhält.

Dann ist da auch noch die Rechtsprechung. Nach Werkvertragsrecht muss der Auftragnehmer (Planer, Unternehmer) die „allgemein anerkannten Regeln der Technik“ (a.a.R.d.T.) einhalten.

Quelle: http://www.bosy-online.de/a-R-d-T.htm (aufgerufen am 04.10.2024)

In Wikipedia lese ich unter dem Stichwort Anerkannte Regeln der Technik (aufgerufen am 04.10.2024): „Die allgemein anerkannten Regeln der Technik sind jedoch nicht identisch mit den DIN-Normen oder ÖNORMen. Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs sind DIN-Normen private technische Regelungen mit Empfehlungscharakter und können deshalb die allgemein anerkannten Regeln der Technik nicht verbindlich bestimmen. Sie können diese zwar wiedergeben, aber auch dahinter zurückbleiben.“

Bei einem Rechtsstreit schaltet das Gericht Gutachter ein. Diese machen es sich einfach und verstecken sich hinter DIN-Normen. Daraus folgt, dass das nicht einhalten von DIN-Normen für die Bauschaffenden ein unkalkulierbares Risiko ist, das die wenigsten eingehen wollen.

Herr Buschmann als wirtschaftsnaher FDP Minister macht es sich einfach. Er versucht sich als der Verantwortung zu stehlen. Im o.g. Interview sagt er: „DIN-Normen werden allerdings weder vom Staat noch von der Politik gemacht.“ Das ist für mich der Knackpunkt. Das DIN darf schalten und walten, wie es will, damit seine Mitglieder „von finanziellen Vorteilen“ profitieren.

Also: Was tun?

  • Das Deutsche Institut für Normung muss aus den Fängen der Wirtschaft befreit werden. Es darf nicht privatwirtschaftlich organisiert sein und muss öffentlich-rechtlich kontrolliert werden.
  • Die Normenausschüsse müssen mit unabhängigen Fachleuten besetzt werden.
  • Deren erste Aufgabe muss sein, ALLE Normen zu durchforsten. Alle nicht öffentlich-rechtlich relevanten oder nicht sinnhafte Normen müssen zurückgezogen werden. Die restlichen müssen vereinfacht und auf ein Mindestmaß reduziert werden.

Dafür brauchen wir eine funktionierende Verwaltung, Bürokratie im positiven Sinn.

Helft, dass dieser Skandal einer noch breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wird. Die SWR-Dokumentation wurde fast 350.000 aufgerufen (Stand 04.10.2024). Das muss mehr werden. Teilt den Link. Schickt ihn an eure Bundestagsabgeordneten und an interessierte Kreise.

Hier die Links:
Teil 1: Die beiden Seiten der Bürokratie
Teil 3: Die beiden Seiten des Mammons