Ich habe das Gefühl, dass Bürokratie äußerst negativ besetzt und alle Welt auf sie schimpft. Aber auch sie hat zwei Seiten!
Was ist eigentlich „Bürokratie“?
Sie „ist eine staatliche oder nicht-staatliche Verwaltung, die durch klare Hierarchien, Entscheidungen nach Gesetz und Vorschriften und geplantem Verwaltungshandeln innerhalb festgelegter Kompetenzen gekennzeichnet ist.“ (Quelle: Wikipedia, besucht am 28.08.2024)
Das ist doch eigentlich gut. Oder? Ohne Personalabteilung und Buchhaltung würde mein monatlicher Lohn nicht auf meinem Bankkonto gutgeschrieben werden.
Während meiner Zeit in Afrika habe ich unsere vielgescholtene deutsche Bürokratie schätzen gelernt. Ist es nicht wunderbar, dass man auf den Ämtern in den allermeisten Fällen freundlich und zuvorkommend behandelt wird. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlen sich als Dienstleister und helfen durch den Dschungel der Vorschriften. Sollte dies einmal nicht der Fall sein, hat man die Möglichkeit, selbst Nachforschungen anstellen, Hilfe zu holen und falls erforderlich Widerspruch einzulegen. Gut ist auch, dass die Bürger meistens – leider nicht immer – gleichbehandelt werden.
Unsere staatliche Bürokratie wacht über Gesetze, Verordnungen und Vorschriften. Diese regeln unser Zusammenleben.
Man stelle sich nur einmal vor, es gäbe keine Straßenverkehrsordnung. Auf unseren Straßen würde das blanke Chaos herrschen. Wenn alle fahren, wie sie wollen, kommt keiner voran.
Als Architekt habe ich mit Bebauungsplänen zu tun. Ich finde nicht alle Regelungen gut, aber ich mag mir nicht vorstellen, wie unsere Städte und Dörfer aussehen würden, wenn jeder so bauen dürfte, wie es ihm gefällt.
Die andere Seite der Medaille „Bürokratie“ kennen wir auch nur zugute.
Gott sei Dank gibt es für Gesamtdeutschland nur eine Straßenverkehrsordnung aber wir Architekten müssen uns in jedem Bundesland mit einer anderen Bauordnung rumschlagen.
Als Paradebeispiel für eine unsinnige Bürokratie muss an Stammtischen oft die berühmte europäische Bananenverordnung (EG) Nr. 2257/94 herhalten. „Laut der Verordnung mussten Bananen, die in die EU eingeführt wurden, sowie innerhalb der EU produzierte Bananen eine Länge von mindestens 14 cm und eine Dicke von mindestens 27 mm besitzen.“ Übrigens, wusstet ihr, dass die Verordnung bereits am 8. Januar 2012 außerkraftgetreten ist? Ich jedenfalls wusste es bis heute nicht. Ist doch eine gute Nachricht, dass auch einmal eine Verordnung abgeschafft wurde.
Ja, wir haben viel zu viele Gesetze, Verordnungen und Vorschriften. Und jeden Monat werden es mehr.
Ich frage mich, warum wir so viele Regelungen haben und warum es immer mehr werden?
Wenn ich in den Nachrichten verfolgt, wie neue Gesetze diskutiert werden, dann kommt ich zu dem Ergebnis, dass sie meist aus einer konkreten Situation entstanden sind, um eine negative Auswirkung zu vermeiden.
Beispiel Straßenverkehr: An einer Stelle im Ort gibt es einen Unfallschwerpunkt. Nach Beratungen mit verschiedenen Ämtern entschließt man sich, die Geschwindigkeit an dieser Stelle auf 30 Stundenkilometer zu begrenzen, um Unfälle zu vermeiden.
Ich kann mir auch vorstellen, dass viele Steuergesetze entstanden sind, weil einige immer ein Schlupfloch finden oder schneiden, weil sie Steuern „sparen“ wollen. Und meist sind es diejenigen mit einem fetten Bankkonto. Nun erlässt man neue Steuergesetze, um diese Steuerlöcher zu stopfen. Recht so, denke ich. Klar ist die jährliche Steuererklärung eine Spaßbremse. Doch wenn ich mich dann durchringe, sie zu machen, dann kann ich einige Regelungen durchaus nachvollziehen. Nach ein paar Stunden Arbeit habe ich es geschafft und freue mich auf die Steuerrückzahlung. Ich bezweifle sehr, dass man mit einer Steuererklärung auf einem Bierdeckel, Steuergerechtigkeit herstellen kann.
Oder ganz aktuell das sogenannte „Sicherheitspaket“, das nach dem Anschlag in Solingen diskutiert wird.
Und wir sind uns alle einig, dass wir momentan auf der anderen Seite vom Pferd herunterfallen. Immer mehr Gesetze, Verordnungen und Vorschriften, deren Einhaltung die Bürokratie überwachen muss, schnüren uns so sehr ein, dass wir uns wie Gulliver nicht mehr bewegen können.

Aus dem Kinderfilm: „Gullivers Reisen – Da kommt was Großes auf uns zu“
Ja wir brauchen „Entbürokratisierung“. Jeder Politiker führt dieses Schlagwort im Munde.
Wie „Entbürokratisierung“ dann konkret aussieht, musste ich als Architekt am eigenen Leib erfahren.
Früher mussten wir selbst für die kleinste Garage einen Bauantrag bei den Bauämtern eingereicht. Wenn der Bauherr dann die Genehmigung in den Händen hielt, war er sicher, dass alles in Ordnung ist und konnte beruhigt mit dem Bau beginnen.
Und heute: In einigen Fällen braucht der Bauherr keine Baugenehmigung mehr. Super! Oder? Der Haken ist, dass das Vieraugenprinzip fehlt und man die Verantwortung auf den Architekten ablädt. Denn die Vorschriften wurden ja nicht weniger im Gegenteil. Der Architekt muss jetzt bescheinigen, dass ALLE Vorschriften und Nebenvorschriften und Durchführungsverordnungen und Nebenvorschriften der Durchführungsverordnungen und Ausführungsbestimmungen und Nebenvorschriften der Ausführungsbestimmungen und … und … und … eingehalten sind. Kann der Bauherr schneller bauen? Meist nicht, da irgendein Nachbar bestimmt dagegen klagt und dann wird der Bau erst einmal eingestellt. Bis dann die Bürokratie den Fall behandelt und entscheidet hat … Das dauert.
Anderes Beispiel auf meinem Berufsfeld. Früher haben die Bauämter unter anderem den Brandschutz der eingereichten Bauanträge geprüft und, wenn alles in Ordnung war, bescheinigt. Die bayerische Landesregierung – die immer noch auf die göttliche Eingebung wartet – hat dies „entbürokratisiert“. Heute müssen freischaffende Brandschutzsachverständige die Einhaltung der Brandschutzbestimmungen bescheinigen. Auch sie wurden nicht vereinfacht, sondern im Gegenteil, sie wurden verschärft. Die Erfahrungen sind: Geht es schneller? Nein! Man muss erst einmal einen Sachverständigen finden und auch er muss das Gutachten bearbeiten. Wird es günstiger? Nein! Der Bauherr muss den Sachverständigen zahlen. Sind die Auflagen angemessener? Nein! Im Gegenteil. Der „freie“ Sachverständige haftet mit allem, was er hat. Und beim Brandschutz geht es im Falle eines Falles um Menschenleben und dann steht der Staatsanwalt vor der Tür. Der Brandschutzsachverständige verschärft die Auflagen, weil er kein Risiko eingehen will.
In den anderen Branchen sieht es nicht anders aus und die Leidtragenden der „Entbürokratisierung“ berichten ähnliches.
Auf YouTube macht zurzeit ein Video die Runde, in der eine Landrätin den vielsagenden Ausspruch getätigt hat: Entbürokratisierung – ich kann’s einfach nicht mehr hören.
Doch am Ende hat sie doch einen guten Rat: „Wir gucken uns alle Bestimmungen an und was brauchen wir wirklich?“
Ja, das wär’s doch!
Doch ich sehe schon die Lobbyverbände – die, nebenbei gesagt, am meisten gegen die Bürokratie wettern – Sturm laufen: „Aber wir brauchen diese Bestimmungen. Die haben doch einen Sinn. Sie schützen Leben.“ … und füllen die Kassen der Betriebe.
Also Kopf in den Sand stecken? Nein! Wir müssen es tun. Aber wer soll diese Entbürokratisierung in die Hand nehmen? Und dafür brauchen wir eine funktionierende, unabhängige und dem Gemeinwohl verpflichtete Bürokratie.
Sollte jetzt jemand Schnappatmung bekommen und meinen, dass die sogenannte „freie Marktwirtschaft“ das besser Regel wird, der lese Teil 2: Die beiden Seiten der DIN Normen
Hier der Link zun Teil 3: Die beiden Seiten des Mammons